Martin Luthers Erbe

Luther, der große Reformator. Gewiss. Aber hätte er je eine solche Bedeutung erlangt, wenn nicht breite Bevölkerungsschichten innerlich bereits gegen die Katholische Kirche rebelliert hätten? – Wohl kaum. Da kam ihnen Luther gerade zupass. Seine Lehre befreite. Nun sollte alles nur noch Gnade sein.

Aber hatte Luther Paulus überhaupt verstanden? Daran darf zu Recht gezweifelt werden. Seine Seelenkämpfe fanden allerdings ein Ende. Kämpfe, die nur entstehen konnten, wenn man von einer irrationalen Angst vor Gott beherrscht war. Die Vorstellungen von einer ewigen Verdammnis hatten das Evangelium völlig überschattet. Gott war wieder – wie im Alten Testament – der unerbittliche Richter geworden. Nur so konnte Luthers Verzweiflung sich in den Worten „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ Ausdruck verschaffen. Verblasst war der Gott der Liebe.

Man kann es verstehen, dass einem solchen Menschen die Gnade über alles gehen musste. Aber Luther saß einer Scheinlösung seines Problems auf, was auch sein späteres Leben deutlich machte.

„Gnade“ im neutestamentlichen Kontext meint nicht, dass du sündigen kannst und Gott alle fünfe gerade sein lässt. „Gnade“ ist nur auf der Grundlage zu verstehen, dass der empirische Mensch – also jeder – durch sein bloßes Sein Sünder ist, und deshalb auch durch jegliches Tun diesen Zustand nicht aufheben kann. Müssten wir immer in dieser menschlichen Verfassung bleiben, gäbe es keine Lösung der menschlichen Probleme. Zu keiner Zeit. Da wären wir in der Tat ewig verdammt, sündigen zu müssen und unter der Sünde zu leiden.

Wir können tatsächlich nur durch die Gnade gerettet werden. Doch worin besteht die Gnade? Was ist ihr Inhalt? Sie besteht darin, dass wir durch das Vertrauen (= Glaube) auf unsere göttliche Natur (Apg. 17,28) faktisch unsere Existenzangst, die durch das Bewusstsein der Endlichkeit eines Organismus entsteht, überwinden können, und damit auch alle Einzelsünden.

Uns ist also durch den Glauben eine Kraft gegeben, durch die wir nicht mehr sündigen müssen. Nur so werden wir auch empirisch von allem Leid erlöst.

Aber hören wir dagegen, wie Luther die Gnade auffasste: „Sei ein Sünder und sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt !“  Ja, was soll denn das Freuen darüber, dass Jesus Sieger ist, aber in uns weiter die Sünde herrscht? Dann betrügen wir  uns doch selbst!

An anderer Stelle sagte er: „Es genügt, dass wir durch den Reichtum der Herrlichkeit Gottes das Lamm erkannt haben, welches die Sünde der Welt trägt. Von ihm wird uns keine Sünde hinweg reißen können, wenn wir auch tausendmal, tausendmal an einem Tag hurten oder töteten.“

Gott wird durch Luthers Auffassung von der realen Welt entrückt. Hier ist er nicht wirksam, nicht einmal im Gläubigen! Alles wird auf das Jenseits, auf die Zukunft vertagt: „Wir müssen sündigen, so lange wir hier sind. Dieses Leben ist nicht eine Wohnung der Gerechtigkeit. Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt.“

Damit wird die Inkarnation Gottes in der Welt entwertet. Gott ist wieder abwesend! Kein Wunder, dass im Gefolge Luthers der Glaube banalisiert wurde. In der Tat ist ein solcher Glaube nicht einen Pfifferling wert. Ein Glaube, der den Menschen nicht verändert, der die Werke der Unwissenheit nicht zerstört (1. Jo 3,8)- also den Menschen nicht nach Geist, Seele und Leib heilt – ist kein Glaube, sondern schlicht und einfach Unglaube. Unglaube, der fromm erscheint.