Die Grundlage von allem
Im Februar 2014 las ich mein erstes und bisher einziges Werk des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (*19. Mai 1762; †29. Januar 1814) mit dem Titel „Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre“(1806). Seine Darlegung der Lehre erscheint heute etwas umständlich und die Sprache recht antiquiert. Trotzdem lohnt es sich, seinen Gedanken, wie ich sie hier auszugsweise wiedergebe, zu folgen, da sie eindeutig belegen, dass Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit fähig sind.
Mir selbst wurde Jahre vor dieser Lektüre klar, dass das Leben an sich der Ursprung aller Dinge ist. Das Leben ist natürlich unpersönlich, hat aber die Tendenz zur Bewusstwerdung und damit zur Bildung von Bewusstseinszentren. Ein persönlicher Gott ist deshalb ein Wesen, in dem sich das Leben seiner selbst als Leben bewusst geworden ist. Er ist also erst ein Produkt des Lebens.
Nur das unpersönliche Leben ist allgegenwärtig und ewig.
Diese Wahrheit hatte auch schon Fichte erkannt und ebenso den einzigen Weg zur Glückseligkeit, den „schmalen Weg“ (Mt 7,14). Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen.
Fichte setzt Sein und Leben gleich: „Sein, sage ich, und Leben ist … Eins und dasselbe. Nur das Leben vermag, selbstständig, von sich und durch sich selber, dazusein.“
Das Leben wird damit als ewig definiert. Der Tod lediglich als etwas, das auf der Grundlage des Lebens erwachsen kann: „so wie Sein und Leben Eins ist und dasselbe, ebenso ist Tod und Nichtsein Eins und dasselbe. Einen reinen Tod aber und reines Nichtsein gibt es nicht.“
Fichte sieht also das Leben an sich als die Grundlage, den Ursprung aller Dinge an. Aus ihm hat sich alles Raum-Zeitliche, also das Vergängliche, dem „Tod“ Zustrebende entwickelt.
Fragt man nun, was vor dem von der Wissenschaft postulierten Urknall war, dann lautet die Antwort : davor war das Leben!
Der „Tod“ ist also nur etwas Scheinbares: „Einen reinen Tod aber und reines Nichtsein gibt es nicht, wie schon oben erinnert worden. Wohl aber gibt es einen Schein, und dieser ist die Mischung des Lebens und des Todes, des Seins und des Nichtseins.“
Fichte führt nun nicht aus, wie es zu einer solchen Vermischung von Sein und Nichtsein kommt. Deshalb möchte ich das aus meinen Erkenntnissen ergänzen.
Aus der Betrachtung des organischen Lebens wird deutlich, dass das Leben unaufhörliche Bewegung ist. Außerdem wissen wir, dass das Leben irritabel ist und damit die Tendenz zur Bewusstwerdung seiner selbst besitzt. Diese ewige Prozesshaftigkeit muss folglich Schöpfungen zum „Zweck“ der Bewusstwerdung des Lebens hervorbringen. Also das Raum-Zeitliche. Aber in jeder solchen Schöpfung/Begrenzung ist wieder das ursprüngliche sich seiner selbst unbewusste Leben tätig, und zwar – wie könne es auch anders sein? – mit der gleichen Tendenz!
Wir sehen deshalb ausgehend vom rein Mineralischen, also dem Stein, eine aufsteigende Linie der Bewusstwerdung des Lebens über Pflanze und Tier zum Menschen hin. Natürlich nur dadurch, dass es sich zunächst mit seiner Lebensform identifizierte. Da die Formen aber selbst vergänglich sind, zittert in ihnen das Leben um seiner selbst vor einem vermeintlichen Nichtsein. Dass dieses nur die Formen betrifft, kann es nur im Menschen begreifen, und da nur in denen, die in der Lage sind, tief genug zu reflektieren. Solange also das Leben sich mit der ihm jeweils eigenen Lebensform identifiziert, ist es gehindert, sich seiner selbst als (ewiges) Leben bewusst werden zu können. Vielmehr ist es mit den sie umgebenden Lebensformen beschäftigt, nämlich inwieweit diese ihm nützlich oder schädlich sein könnten. Das Leben ist sich da also seiner selbst entfremdet, ist nicht bei sich.
Die einzige Möglichkeit, wie der Mensch glücklich werden kann
Demzufolge kann der Mensch, der seine Befriedigung noch in den Objekten des Daseins sucht, niemals wahrhaft glücklich werden. „Der Grund alles Elendes unter den Menschen ist ihre Zerstreutheit in dem Mannigfaltigen und Wandelbaren;“
Was ein solcher Mensch „Leben“ nennt, ist deshalb nur ein Scheinleben. „ Das blosse Scheinleben [ist] versucht zu lieben…das Vergängliche in seiner Vergänglichkeit.
Das Scheinleben lebt nur in dem Veränderlichen, und bleibt darum in keinen zwei sich folgenden Augenblicken sich selber gleich; jeder künftige Moment verschlingt und verzehrt den vorhergegangenen; und so wird das Scheinleben zu einem ununterbrochenen Sterben, und lebt nur sterbend, und im Sterben“ [ vgl. Eph. 2.1,5; Kol 2,13; 1. Tim 5,6].
„Sonach ist der Zustand des Seligwerdens die Zurückziehung unserer Liebe aus dem Mannigfaltigen auf das Eine.“ Das geschieht mittels der Liebe zum Ewigen.
„Die einzige und absolute Bedingung des seligen Lebens sei die Erfassung des Einen und Ewigen mit inniger Liebe und Genuss“ [vgl. Mk 12,30].
Erst durch solche Konzentration wird der Mensch „kernig“, stark.
„Alle innere geistige Energie erscheint im unmittelbaren Bewusstsein derselben, als ein sich Zusammennehmen, Erfassen und Kontrahieren seines ehedem zerstreuten Geistes in Einen Punkt, und als ein sich Festhalten in diesem Einheitspunkt gegen das stets fortdauernde natürliche Bestreben, diese Kontraktion aufzugeben, und sich wiederum auszudehnen. Also, sage ich, erscheint schlechthin alle innere Energie; und nur in diesem sich Zusammennehmen ist der Mensch selbstständig, und fühlt sich selbstständig. Ausser diesem Zustand der Selbstkontraktion verfliesst er eben und zerfliesst, und zwar keinesweges so, wie er will und sich macht (denn alles sich machen ist das Gegenteil des Zerfliessens, die Kontraktion), sondern so wie er eben wird, und das gesetzlose und unbegreifliche Ohngefähr ihn gibt. Er hat demnach in diesem letzteren Zustand gar keine Selbstständigkeit, er existiert gar nicht als ein für sich bestehendes Reales, sondern bloss als eine flüchtige Naturbegebenheit. Kurz, das ursprüngliche Bild der geistigen Selbstständigkeit ist im Bewusstsein ein ewig sich machender und lebendigst sich haltender, geometrischer Punkt: das ebenso ursprüngliche Bild der Unselbstständigkeit und des geistigen Nichtseins, eine unbestimmt sich ergiessende Fläche. Die Selbstständigkeit kehrt der Welt eine Spitze zu; die Unselbstständigkeit eine stumpf ausgebreitete Fläche.
In dem ersten Zustande allein ist Kraft und Selbstgefühl der Kraft; darum ist auch nur in ihm eine kräftige und energische Auffassung und Durchdringung der Welt möglich.“
Jesus drückte diese Wahrheit so aus: „wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Mt 12,30)
Dieses Anhaften am Ewigen, des Leben an sich, ist folglich der Mittelpunkt des erwachten Menschen. Es ist das Aufhören der Identifikation des Lebens mit der Form. Nun da sich das Leben im Menschen selbst erkannt hat, ist es die Identifizierung des Lebens mit sich selbst. Wie Jesus kann ein solcher Mensch (sich) sagen: „Ich bin das Leben“ (Jo 14,6). Nicht mehr und nicht weniger! Das Leben ist Nichts im Sinne von Gestaltung, aber damit Alles, da es die große Offenheit, die absolute Freiheit ist. Während eben jede Form Beschränkung darstellt.
Deshalb fasst Fichte die Weisheit, die ein jeder Mystiker kennt, in die Worte „Solange der Mensch noch etwas für sich selbst sein will, kann das wahre Sein und Leben in ihm sich nicht entwickeln, und er bleibt eben darum auch der Seligkeit unzugänglich; denn alles eigene Sein ist nur Nichtsein und Beschränkung des wahren Seins; und eben darum, entweder auf dem ersten Standpunkt der Sinnlichkeit, die ihr Glück von den Objekten erwartet, lauter Unseligkeit, da durchaus kein Objekt den Menschen befriedigen kann.“
Falsche Erwartungen der Gläubigen
Aus dieser Wahrheit heraus beleuchtet er auch die weitverbreiteten aber deshalb nicht weniger falschen Vorstellungen eines ewig seligen Lebens nach dem Tod, wie es angeblich der Gläubige erwarten könne.
„Es hilft auch nichts, dass man diese Glückseligkeit recht weit aus den Augen bringe und sie in eine andere Welt jenseits des Grabes verlege; wo man mit leichterer Mühe die Begriffe entwirren zu können glaubt. Was ihr über diesen euren Himmel auch sagen (…) mögt: so beweiset doch schon der einzige Umstand, dass ihr ihn von der Zeit abhängig macht und ihn in eine andere Welt verlegt, unwidersprechlich, dass er ein Himmel des sinnlichen Genusses ist. Hier ist der Himmel nicht, sagt ihr: jenseits aber wird er sein. Ich bitte euch: was ist denn dasjenige, das jenseits anders sein kann, als es hier ist? Offenbar nur die objektive Beschaffenheit der Welt, als der Umgebung unseres Daseins Die objektive Beschaffenheit der gegenwärtigen Welt demnach müsste es eurer Meinung zufolge sein, welche dieselbe untauglich macht zum Himmel, und die objektive Beschaffenheit der zukünftigen das, was sie dazu tauglich macht; und so könnt ihr es denn gar nicht weiter verhehlen, dass eure Seligkeit von der Umgebung abhängt, und folglich ein sinnlicher Genuss ist. Suchtet ihr die Seligkeit da, wo sie allein zu finden ist, rein in Gott und darin, dass er heraustrete, keinesweges aber in der zufälligen Gestalt, in der er heraustrete; so brauchtet ihr euch nicht auf ein anderes Leben zu verweisen: denn Gott ist schon heute, wie er sein wird, in alle Ewigkeit.“
Der Erlöste
Wer wirklich glücklich werden will, wendet also seinen Blick vom Äußeren aufs Innere. Der sich mit dem Ewigen Identifizierende kennt „keine Furcht über die Zukunft, denn ihn führt das absolut Selige ewig fort derselben entgegen; keine Reue über das Vergangene, denn inwiefern er nicht in Gott war, war er nichts, und dies ist nun vorbei, und erst seit seiner Einkehr in die Gottheit ist er zum Leben geboren; inwiefern er aber in Gott war, ist recht und gut, was er gethan hat. Er hat nie etwas sich zu versagen, oder sich nach etwas zu sehnen, denn er besitzt immer und ewig die ganze Fülle alles dessen, das er zu fassen vermag. Für ihn ist Arbeit und Anstrengung verschwunden, seine ganze Erscheinung fliesst lieblich und leicht aus seinem Innern, und löst sich ab von ihm ohne Mühe. Er ist „des Schmerzes, der Mühe, der Entbehrung frei.“ „Worin seine Seligkeit selbst positiv bestehe, lässt sich [allerdings] nicht beschreiben, sondern nur unmittelbar fühlen.“
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